Neun Fragen an Anna

Neun Fragen an Anna

Im ersten Buch „Jugendliebe“ ist Anna vierzehn Jahre alt. Sie lebt in der DDR und geht in die neunte Klasse einer polytechnischen Oberschule in Potsdam. Im Fach Deutsch müssen die Schüler Interviews führen. Annas beste Freundin Sandra stellt ihr neun Fragen. Du möchtest die junge Anna kennenlernen? Im Artikel begegnest du den Freundinnen zum ersten Mal.

Mausi, ich habe zehn Fragen für dich

Sandra ist genervt, von der Aufgabe der Lehrerin. Sie wollte in der Stunde abschalten und mit Anna Briefchen schreiben. Da gab es diesen Jungen, der ihr nicht aus dem Kopf ging. Doch nun sollten sie ein Interview führen. Sie bekamen eine Note dafür. Sandra stand in Deutsch auf einer Eins. Das wollte sie sich nicht verderben. Außerdem würde sie Anna mit in die schlechte Note reißen. Sie riss sich zusammen und grinste Anna an. »Mausi, ich habe zehn Fragen an dich.«

Anna grinste zurück. Sie richtete mit ihren Händen das kurze blonde Haar und guckte Sandra erwartungsvoll an. Sandra las vor, was auf dem Fragebogen stand, den sie von der Lehrerin bekommen hatte.

Frage 1: Welches Schulfach magst du am liebsten?

Anna musste nicht überlegen. »Zeichnen.»

»Das war klar.« Sandra notierte das Fach in der ersten Spalte. Es gab noch eine Zweite. In diese musste sie schreiben, warum Anna diese Antwort gegeben hatte. Sandra wusste es: Anna zeichnete für ihr Leben gern. Schon im Kindergarten war es aufgefallen, dass das kleine Mädchen mit dem Bleistift besonders geschickt umgehen konnte. Filzstifte, Buntstifte oder Tusche mochte sie nicht,

»Das Zeichnen ist für mich eine Möglichkeit, meine Gefühle rauszulassen. Ich spreche nicht gern über mich. Das weißt du ja. Wenn ich einen Bleistift in der Hand halte, kommen die Linien wie von selbst auf das Papier. Ich male auf, was ich gerade denke.«


Die zweite Frage trieb Sandra noch ein breiteres Grinsen ins Gesicht. Sie wusste, dass Anna rote Ohren bekommen würde. Vermutlich war ihr die Beantwortung der Frage peinlich. Die Lehrerin war sehr direkt. »Ich les mal«, sagte sie und schaute die Frage an.

Frage 2: Hattest du schonmal einen Freund?

In Anna stieg Hitze auf. Was ging es die Lehrerin an, ob sie schon einmal einen Freund gehabt hatte? Einen Tisch vor ihr diskutierte Ute mit Kathrin. Kathrin meldete sich und fragte, ob sie alle Fragen beantworten mussten.

»Ich bitte darum«, sagte Frau Meyer. Die Lehrerin war beliebt, in der Klasse. Sie war Klassenlehrerin und behielt die Schüler bis zu ihrem Abschluss im übernächsten Jahr.

Frau Meyer sah in die fragenden Gesichter der vier Mädchen, die vor ihr saßen. »Was ihr in den Fragebogen schreibt, bleibt unter uns. Eure Mitschüler erfahren es nicht. Deshalb bat ich euch doch, euch zu euren Freunden zu setzen. Es geht darum, dass ihr lernt, über eure Gefühle zu sprechen. Das ist für den Prüfungsaufsatz in der zehnten Klasse sehr wichtig. Ihr müsst eure Gedanken reflektieren. Dies gelingt besser, wenn ihr offen über das reden könnt, was euch bewegt.«

»Na dann …« Sandra sah Anna fragend an.

»Nein. Ich hatte noch keinen Freund«, sagte sie lauter, als sie es beabsichtigt hatte. Es stimmte. Sie war noch nie mit einem Jungen zusammen gewesen. Sandra auch nicht. Aber sie wurde erst in der nächsten Stunde von Anna befragt.

»Möchtest du nicht endlich mal einen Freund haben?«

Anna verneinte wieder. Sie fühlte sich zu jung. Außerdem wusste sie nicht, wo sie jemanden kennenlernen sollte. Die Jungen aus ihrer Klasse waren Freunde. Gehen wollte sie mit niemandem.

»Du bist langweilig«, kommentierte Sandra Annas Worte, die sie in die dafür vorgesehene Spalte des Fragebogens schrieb.


Frage 3: Welchen Beruf möchtest du einmal ergreifen?

Sandra las die Frage vor und wusste auch diese Antwort. Anna wollte Krankenschwester werden. Am Ende des Schuljahres bewarb sie sich im Bezirkskrankenhaus in Potsdam.

»Als ich vier oder fünf Jahre alt war, bekam ich von meinen Eltern zu Weihnachten einen Arztkoffer geschenkt. Ich habe es geliebt, damit zu spielen. Ärztin mag ich aber nicht werden. Ich kümmere mich lieber um die Patienten.«

»Hast du nie darüber nachgedacht, deinem Paps in den Obstanbau zu folgen?«, fragte Sandra.

Anna schüttelte den Kopf. »Paps wünscht sich das. Aber das ist nichts für mich. Ich muss so oft bei der Ernte helfen. Ich mag das nicht. Aber es ist okay, für Mami und für Paps auch. Ich darf den Beruf lernen, den ich lernen möchte.


Frage 4: Wie viele Geschwister hast du und wie lebt ihr zu Hause?

Sandra hatte die Frage leise gestellt. Auch Anna sah sich um. »Ich habe keine Geschwister«, zischte sie.

»Weiß ich doch«, flüsterte Sandra und schrieb die Information in die dafür vorgesehene Spalte. »Was soll ich aufschreiben, von deinem Zuhause?«

Anna sprach von dem alten Haus, das ihr Urgroßvater gebaut hatte. Und von dem großen Garten, mit dem Nussbaum, der dem Rasen darunter Schatten spendete. Dort saß die Familie zusammen, beim Grillen, beim Rommé spielen, oder Anna las mit ihrer Mami ein Buch, während Dieter die Bäume, Sträucher und Beere inspizierte. »Der Garten ist das Ein und Alles, für meinen Paps. Das habe ich von ihm nicht geerbt. Aber dass man immer raus kann, das finde ich toll. Nur ist auf unserem Dorf nichts los. Das nervt. Da würde ich lieber, wie du, in der Stadt leben.«

Sandra seufzte. »Aber nicht in der Platte. Meine Omi hat auch so einen schönen Garten. Manchmal habe ich Sehnsucht danach.«

»Ich muss immer mit dem Bus fahren, wenn ich irgendwo hin will. Das kannst du auch noch aufschreiben. Dass ich gern ein Moped hätte und unabhängig wäre. Aber Paps erlaubt es nicht.«


Frage 5: Was machst du in deiner Freizeit am liebsten?

Sandra lächelte. »Das hatten wir doch schon. Meine Mausi zeichnet.«

Anna nickte. »Fast jeden Tag. An meinem Schreibtisch, im Garten oder hier in der Schule, wenn es langweilig ist.« Sie lächelte. »Aber es gibt noch mehr. Mein Sport. Ich versuche, so oft wie möglich zu laufen. Auf unserem Sportplatz. Seit ich weiß, dass ich nicht auf die Sportschule gehen kann, ist es seltener geworden. Das müsste ich mal wieder ändern.«

Sandra schrieb fleißig. Dann fragte sie. »Musik? Freunde?«

Anna sah in Sandras braune Augen. »Kommen wir jetzt zu deinen Hobbys?«

»Klar. Weil wir die gemeinsam haben.«

»Hast ja recht. Also, mein Recorder läuft jeden Tag, die Kassetten sind immer voll und ich bin unheimlich gern mit dir und den anderen in Potsdam unterwegs. Zu Hause hatte ich eine Freundin, die vor zwei Jahren weggezogen ist. Da war ich total traurig, denn jetzt gibt es dort niemanden, mit dem ich richtig eng bin.«

»Soll ich weggezogen schreiben?« fragte Sandra ganz leise.

Anna flüsterte zurück: »Dass die Familie in den Westen abgehauen ist, kannst du schlecht schreiben. Also weggezogen.«

Sandra nickte. Anna sprach jetzt wieder etwas lauter. »Da gibt es noch viel mehr. Mit meinen Eltern spiele ich gern. Nicht nur Rommé. Brettspiele aus der Zeit, als ich noch kleiner war. Ich liebe diese Spieleabende. Paps kann nicht verlieren. Er flucht dann immer laut und hat keine Lust mehr. Doch das ist nicht ernst gemeint.«

»Ich mag deinen Paps total gern. Meinen Vater habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«

Anna streichelte Sandras Arm. Sie wusste, dass ihre beste Freundin unter der Trennung der Eltern litt.


Frage 6: Erzähle ein schönes Erlebnis aus deiner Kindheit

»Da gibt es so viele. Darf ich wirklich nur eins nennen?«

»Wir haben schon so viel aufgeschrieben. Bei mir wird es weniger.«

»Das glaube ich nicht. Du hast deine Omi, du bist umgezogen und du bist immer unterwegs. Dagegen bin ich richtig langweilig.«

»Ach was. Du bist mein ruhiger Pol. Also, was soll ich aufschreiben?«

Anna dachte einen Augenblick nach. Dann erzählte sie: »Wir waren an der Ostsee. Ich glaube, es war in dem Jahr, in dem ich in die Schule kam. Oder hatte ich die erste Klasse schon hinter mir? Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls waren wir in Warnemünde. Papa hatte einen Strandkorb gemietet. Das Wasser war an dem Tag ganz glatt. Keine Wellen. Nur, wenn die Fähren rausfuhren. Nach Schweden. Dann kamen ein paar Wellen. Ich konnte noch nicht richtig schwimmen und durfte nicht ins tiefe Wasser. Luftmatratzen sind ja verboten. Und man darf nur bis zu den Bojen schwimmen. Meine Eltern gingen rein, ich blieb am Ufer sitzen. Dann dachte ich mir, warum schwimmst du nicht einfach hinterher? Ich ging rein, bis zum Bauchnabel, und versuchte es. Es funktionierte und war ein bisschen einfacher als an unserem See. Da schwamm ich einfach los. Ich rief nach meiner Mami, sie drehte sich um, hörte mich und bekam einen Schreck. Sofort kehrte sie um, ich schwamm auf sie zu. Ganz sicher. Es hat so einen Spaß gemacht. Paps hat gemeckert. Aber er war auch total stolz auf mich. Seit dem Tag konnte ich schwimmen.«

»Das ist ja cool, das wusste ich noch gar nicht.« Sandra hatte mitgeschrieben. Sie lernte erst in der dritten Klasse schwimmen. In der Schule. Sie war nicht so eine Baderatte wie Anna.


Frage 7: Was macht dich traurig?

Anna musste nicht lange überlegen. Sandra wusste, was sie jetzt aufschreiben musste, doch sie wartete ab, was Anna erzählte. »Ich bin traurig, dass ich keine Großeltern habe. Die Eltern meiner Mami sind gestorben, als sie sechzehn war. An einem Autounfall. Ihr Bruder Bernie lebt in Hamburg, er ist zehn Jahre älter als sie. Einmal im Jahr kommt er uns besuchen.«

Anna machte eine kurze Pause. »Die Eltern von meinem Paps lebten bei uns im Haus. Opa starb kurz vor meiner Geburt an einem Herzinfarkt. Oma sprach seitdem nicht mehr. Sie hatte ihre Töchter verloren, als Kinder. Tuberkulose. Nur mein Paps hat die Infektion überlebt. Das hat sie nie verwunden. Den Tod meines Opas erst recht nicht. Mami sagt, dass Oma an einem gebrochenen Herzen gestorben ist. Dadurch hat Papa keine Geschwister und wir sind nur eine ganz kleine Familie.«

»Aber eine sehr lustige«, sagte Sandra.

»Oh ja. Papa wollte die Traurigkeit aus unserem Haus vertreiben, seit ich klein bin. Deshalb hat er uns das Lachen befohlen.« Am Nebentisch begannen zwei Jungen zu kichern, als hätten sie zugehört. Doch sie füllten einen eigenen Fragebogen aus.


Frage 8: Fasse kurz deinen Lebenslauf zusammen!

Sandra sah Anna erwartungsvoll an, obwohl sie jedes Detail aus dem Leben der Freundin wusste. »Eigentlich brauche ich dich gar nicht zu fragen«, sagte sie, »und du mich auch nicht. Wir hätten es uns einfach machen können: Du füllst meinen Fragebogen aus und ich deinen.«

»Das hätte Frau Meyer aber mitbekommen.«

»Quatsch. Wir hätten einfach Briefchen geschrieben.« Sandra lachte los, einige Köpfe drehten sich nach ihr um. Frau Meyer bat um Ruhe. Anna erzählte leise aus ihrem Leben. »Meine Mami war zwei Jahre zu Hause, weil sie mich nicht in die Krippe geben wollte, als ich so klein war. Dann bin ich in Wolbin in die Kita gekommen. Da habe ich mich aber nicht so wohl gefühlt. Ich fand es zu Hause schöner. Wir hatten eine strenge Erzieherin. Mami hat nur halbtags gearbeitet und mich gleich nach dem Mittagsschlaf abgeholt. Das mochte die Erzieherin gar nicht. Ich sollte bis nach der Vesper bleiben. Doch meine Eltern haben sich durchgesetzt.«

Anna erzählte von der Einschulung in Wolbin. »Die Unterstufe war toll. Da lernte ich meine Freundin kennen, die weggezogen ist. Wir haben zusammen Laufen trainiert. In der fünften Klasse sollten wir auf die Sportschule gehen. Doch ich bin zu schnell gewachsen und hatte Rückenprobleme. Dann bin ich hier gelandet. Mein Paps wollte mich nicht nach Groß Kreutz schicken. Da gehen die Kinder aus unserem Dorf eigentlich hin. Sonst gibt es nicht viel zu sagen. Im Sommer fahren wir zwei Wochen an die Ostsee in den Urlaub. Wir haben mit dem Garten viel Arbeit. Ich helfe mit. Dafür darf ich am Wochenende ausschlafen. Meine Hobbys hast du schon aufgeschrieben. Mehr gibt es nicht zu sagen.«

Sandra hatte fleißig mitgeschrieben. Sie sah auf ihre Uhr, die Stunde war fast zu Ende. Eine Frage blieb noch übrig.


Frage 9: Was wünschst du dir für die Zukunft?

Anna lächelte. »Ich möchte Krankenschwester sein, einen Mann und Kinder haben. Und ein Haus.«

»Und dein Typ muss braune Augen und schwarze Haare haben.«

»Das schon. Aber das schreibst du bitte nicht auf.«

Es klingelte. »War ne coole Stunde«, sagte Sandra, »nächste Woche bin ich dran.«

Anna packte ihre Sachen ein. Sie sah auf die Uhr. Es war Unterrichtsschluss, ihr Bus fuhr in zehn Minuten. Manchmal blieb sie mit Sandra in Potsdam, aber heute sollte sie nach Hause kommen. Ihre Mami wollte Marmelade einkochen. Eine Arbeit, bei der Anna gern half. Sie liebte Marmeladenbrötchen und es machte Spaß, gemeinsam in der Küche zu arbeiten. Kurz dachte sie nach, über ihr Leben und ihr Zuhause. Es war schön, so wie es war. Auch wenn es in der Familie einige schwierige Zeiten gegeben hatte.